Der dort wäre ich, wenn ich sein könnte. (Samuel Beckett)


Tischzeit

Zurzeit bin ich hier, seit jeher, für immer, wo soll ich hin, wo kann ich hin? Hier ist meine Welt, wie es aussieht. Passanten laufen nach rechts und nach links vorbei. Mal mehr, mal weniger. Für dauernd scheinende Augenblicke läuft niemand vorüber. Dann spiegelt sich der Eingang ungestört im Lack eines parkenden Autos. Ich bewege mich wie ich will und spiegele mich nicht. Vorbeilaufende spiegeln sich im Glas der Theke. Sie sehen mich nicht, aber ich sehe sie. Darauf kommt es mir an. Einer erfasst meinen Blick und geht weiter. Der nächste schaut mich nicht an. Eine Frau wendet sich ab. Ein Gast führt sein Getränk zum Mund und guckt auf den Fernseher. Ich folge seinem Blick. Ich erinnere mich nicht, wie ich hierher gekommen bin, wann zum ersten Mal. Ich kam hier früher auf dem Weg zur Schule vorbei, aber was hier war, weiß ich nicht. Vielleicht ein Bäcker oder später ein Schreibwarenladen. Ich erinnere mich an ein Büro der Heilsarmee an einer Straßenecke. Aber das war nicht hier. Dieser Laden ist frisch gestrichen. Vom Gehweg und von der Ampel aus wollen die Fußgänger den Betreiber wie seine Vorgänger scheitern sehen und geben ihm ihre Frist. Die Scheiben waren lange Zeit zugehängt. Die Straße verlief anderes aber dieses Haus ist kein Neubau. Das Haus gegenüber mit seiner Hausnummer über dem Eingang blieb unverändert. Das habe ich vor Augen aber an das Geschäft hier erinnere ich mich nicht. Aber an die Fliesen. Der Flur ist gefliest wie zur Zeit meiner Kindertage. So war das früher. Das gibt es hier noch. Mein Kinderroller, nein, ein Einkaufswagen und ramponierte Wände. Ein Kinderroller und ein Einkaufswagen im Hausflur, Zutritt verboten, vom Lokal aus. Die Fliesen kann man nicht mehr kaufen, glaube ich. Ich könnte nachschauen. Sie gliedern sich zu exakt verlegten Rechtecken. Ich meine nicht die Fliesen im Flur, sondern die im Gastraum. Die sind neueren Datums. Ich bin allerdings kein Fachmann, aber Kunde im Fachhandel. Die Fugen spannen ihr Netz über die Fenster und Balkone gegenüber und die Autos vor dem Haus. Die Facetten der Spiegelung wollen nicht genau zusammenpassen. - Nein, dieser Imbiss ist schon immer hier.
Wenn ich zu sprechen versuche muss ich husten. Ich kann nicht aufhören, bis ich einen Schluck trinke, irgendetwas, irgendwoher. Es gibt den kleinen Wasserhahn am Handwaschbecken. Ich muss nur aufstehen und ein bauchiges Teeglas darunter halten oder jemanden bitten, mir zu helfen. Ein Zeichen, und die Gäste verstehen mich. Scharf oder süß für hier oder zum Mitnehmen fragt mich der Wirt nach meiner Bestellung und ich nicke. Neben mir stehen Gäste auf dem roten Teppich vor der Theke wie ich einst beim ersten Mal. Einer hat haargenau die gleichen Schuhe an, haargenau die gleichen wie ich. Okay, mit Zwiebeln und Peperoni, aber ohne Tomaten, schauen Sie mal. Okay, mit Tomaten, aber ohne Zwiebeln und Peperoni. Mit Tomaten und Zwiebeln, aber ohne Peperoni. Scharf oder Süß? Scharf mit süß geht auch. Er angelt und füttert die offene Brottasche. Manche verstehen Mit oder Ohne nicht. Er fragt nochmal und gibt mir ein Zeichen – nein, es gilt nicht mir, er hat jemand anderen im Blick. Obwohl ich scharf bestelle, macht er süß, oder umgekehrt. Er tut eh darauf, was er meint. Deshalb denke ich an das eine und bestelle das andere. Ich warte auf meine Mahlzeit und trommle im Rhythmus der Musik auf den Tisch. Ich knibble an meiner Unterlippe und merke, dass ich mit dem Fuß im Rhythmus der Musik wippe. Ein kleines Mädchen vor der Theke tanzt und schaut mich an. Weiter so. Zu trinken? Im Kühlschrank. Wenn Sie hier essen ist Tee umsonst. Sonst ein Euro. Einpacken? Nein für hier. Okay. So bitte schön. Zwei Tee trinke ich immer oder gieße heimlich nach. Das hat mich oft gerettet. Beim Bezahlen sage ich das. Es geht aufs Haus. Danke. Die Jungen dort am Tisch essen auch. Einer will Tee. Der Wirt sagt ein Euro. Boh billig sagt der eine zum anderen. Ich will ihm den Tipp geben, aber halte mich zurück. Sonst zahle ich auch. Nicht nur den Wirt hätte ich gegen mich, auch ein Team im Schichtbetrieb. Er scheint der Chef zu sein, oder seine Frau - und der andere sein Teilhaber, die Nummer Zwei. Und all die anderen, die tun, was sie sagen. Sie wissen, was zu tun ist. Einheitskleidung, Schiffchen, alle tragen das, nur der Wirt nicht. Er trägt eine Mütze. Die Mütze am Garderobenhaken könnte mir passen, kein männlicher Gast ist mehr hier. Frauen kehren mir ihre Rücken zu. Denen gehört sie nicht wegen ihrer Frisuren. Sie gehört mir, ich ließ sie hier liegen. Der Wirt hing sie auf. Ich bin mir sicher. Ich sah ihn noch nie mit einer. Er trägt heute ein Schiffchen wie sein Personal. Er geht nicht immer mit gutem Beispiel voran. Ich hänge sie zurück. Ich muss nach ihr suchen. Seine Frau trägt ein Kopftuch, die Tochter ein Schiffchen und ein Kopftuch, wenn sie frei hat. Wo kommt der andere mit dem Schiffchen her, der wohnt wohl unter dem Tresen, wie ich in der Ecke. Deswegen fegt er die Krümel zu mir, er nimmt mich nicht mehr als Gast wahr, sondern als Inventar. Den Wirt kenne ich immer nur mit seiner Dienstmütze. Alle vom Personal tragen die. Ich habe keine und nehme sie. Ich muss mal suchen. Ich erkenne ihn nicht wieder, obwohl ich oft hier bin. Er hat nur schwarze Stoppeln auf dem Kopf. Die Jungen werden nicht wieder kommen. Ich schon. Ich darf bleiben. Ich werde mein Zuhause nicht aufs Spiel setzen. Wenn es heiß ist gibt's eh keinen Tee oder er hat keine Zeit, macht er später. Dann bleibt etwas Kaltes aus dem Kühlschrank. Buttermilch mag ich nicht. Da ist die Grenze.
Er schaut immer wenn ich lese, besonders bei Bildern, die faszinieren uns beide. Für dauernd scheinende Augenblicke kommt niemand. Er setzt sich mit seiner Mahlzeit an den vordersten Tisch. Den hat er mit Zeitungen, Rechnungen, Lieferscheinen und der Fernbedienung für den Fernseher reserviert. Wie er am Tisch sitzt, immer den Eingang im Blick, wie er auch mit Kopf in den Nacken beim Trinken nichts aus den Augen lässt. Er unterhält sich mit einer älteren Dame. Sie trägt eine lange Bluse und ein Kopftuch. Bestimmt ist sie seine Mutter oder eine Tante. Er lässt sich nicht stören, als ich mir neben ihm die Hände wasche weil er weiß, dass ich nichts verstehe. Hast du Vater gesehen Stress Derwisch. So hören sie sich an. Sie nimmt das Telefon. Der Stoff ist zwischen Ohr und Hörer. Darum stellt sie auf Lautsprecher. Beide lachen. Kein Tisch ist mehr frei und Gäste schauen und suchen umher. Er räumt seinen für sie frei. Zum Bedienen muss er halt immer hoch und hinter die Theke, seinen Teller mit dem Bissen stehen lassen. Er weiß das. Ich esse nicht mehr sagt er und wirft seine Mahlzeit weg. Die Müllkübel sind immer zur Hälfte voll. Wie schaffen die Gäste das? Beide Klappen sind gleich, auf beiden steht Müll. Sie müssten erst die eine und dann die andere Klappe öffnen oder in anderer Reihenfolge, oder beide gleichzeitig, was schwierig ist, wenn man den Teller festhält mit einem Essensrest darauf, der in den Müll soll und nachschauen, um sich zu entscheiden. Das habe ich noch nie beobachtet. Ich entscheide mich für die Klappe, die näher am Waschbecken ist, weil ich mir nach dem Wegkippen dann schneller die Hände waschen kann. So, wie es aussieht, denkt die eine Hälfte der Gäste wie ich, die andere nicht, warum auch immer. Zum Spaß mache ich die andere auch auf. Er wirft seine Mahlzeit weg anstatt sie mir zu geben. Darüber haben wir uns noch nicht verständigen können. Es wird ihn drei Tee aufs Haus kosten. Der Wirt, mein Schutzherr, ich tue ihm Unrecht. Werde ich undankbar? Ich bin ihm dankbar, dass ich zu ihm kommen darf, dankbar bin ich meinem Wirt. Seine Preise sind niedriger, sein Geschäft ist sauberer, auch wenn auf meinem Tisch noch drei kleine Kleckse sind, die ich mit dem Ärmel wegwische. Alles ist besser in Stand als bei der Konkurrenz. Die hatte zum Jahresanfang ihre Preise erhöht. Ich runde gelegentlich auf, bis er seine Preise zur Jahresmitte angleicht. Er verteilt Pudding an seine Lieferanten, Bekannte und Verwandte. Für mich hat er auch einen. Nachtisch, sagt er und berechnet ihn tatsächlich nicht. Ich gebe ihm eine Münze mehr. Ich versuche immer Kleingeld mitzuhaben, will uns wegen des Wechselns nicht in Verlegenheit bringen, ich habe ihm genug gezahlt, blieb ihm noch nie etwas schuldig, ich habe fast keine Ausgaben. Auch für mich geht er zum Geld wechseln nach nebenan in den Laden mit den Bettdecken in der Sonne auf dem Bürgersteig, wenn ich es doch nicht passend habe. Ich habe aufgegeben. Er gibt immer heraus. Nicht mehr lange, bis er die Preise erhöht und es dann stimmt. Er komme gleich wieder, sagt er und geht, als ich bezahlen will. Er weiß, dass ich nicht weglaufe. Mit dem Tee aufsetzen lässt er sich Zeit. Dass es noch keinen gibt, wenn ich zu früh komme verstehe ich. Ich gebe hier kaum etwas aus. Er scheint den kostenlosen Teeausschank verzögern zu wollen. An den Getränken im Kühlschrank verdient er und quält mich ihm zuzusehen, wie er das Gerät lange ausgiebig putzt und den Wasserkanister daneben stehen lässt, aus dem kein Tee wird. Es hilft auch nicht, dass er das Gerät einschaltet. Es dauert zu lange, bis das Wasser kocht und den Kessel mit dem Konzentrat aufheizt. Er hat gewonnen. Ich nehme mir eine Dose aus dem Kühlschrank. Er nicht. Nach der zweiten Dose tut er, worauf ich warte. Ich muss los und warte, aber er braucht. Ich ignoriere die Zeit, wenigstens ein Glas, viel zu hell. Ich werde zu spät sein. Das kann ich nicht immer machen. Niemand ruft nach mir. Mein Geheimtun wirkt komisch. Als wir alleine sind sitzt er dem Eingang gegenüber, dreht sich zu mir um und sagt, Döner macht schöner. Der Dönerstag ist ein schöner Tag am Aschermittwoch, sage ich. Nein, am Gründonnerstag! Er hat hinten zu tun und lässt mich allein. Der Raum wird von Kameras überwacht. Ich überlege zu furzen, er würde es nicht sehen, aber da ist er wieder. Er lässt die Hintertür zum Hof auf, um meinen Winkel zu verdecken, um die Garderobe zu vergrößern, zu verlängern, mir mehr Platz zu geben. Ich sehe ihn von hinten, wie er auf die Straße schaut. Das Glas hindert ihn. Da steht er in der offenen Tür, während ich hinter der Hintertür mit meiner Mahlzeit hervorschaue. Das sehe ich im Spiegel. Dann macht er meine Tür, deren Schutz er mir kurz zuvor schenkte, zu und sieht, dass ich schreibe. Es zog wohl zu sehr, als er in der Tür zur Straße stand.
(zunächst bis hierhin)


"Dröges Geschwätz! Der eingereichte Text war erheblich länger, aber es reicht! Denn es wurde munter weiter drauflos geschwafelt!" (Malte Bremer, Die Textkritik im  literaturcafe.de vom 05.05.2017)



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