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Tilt, game over, jenseits von gut und böse und was man noch dazu sagen kann
In den Grill, Gyros mit Pommes oder Schnitzel, erst mal eine Nase davon nehmen und ein Auge darauf werfen, hinsetzen und
Wurzeln schlagen, sich festbeißen und alles in Ruhe durchkauen.
Ulle war ein Star mit seinem Statson, dem Mantel und der blonden Mähne.
Nachdem ein Kamerateam da war, luden Leute, die sonst vorbeigingen, Flaschen ab
mit kaum noch was drin aus ihren Hausbars, abgewetzte Klamotten und Decken, durchgelegene Matratzen und anderen Müll.
Auch einen Wecker zum Aufziehen. Der tickte, aber die Zeit stimmte mit der oberhalb des Tunnels nicht überein.
„Zeig mal deine Beine“, sagte ich. „Zeig mal!“ Er gab sein Gesicht frei, das aussah wie seine Tätowierung, ein Schädel.
Blasse Haut, fast Knochen mit Rötungen wie Markstücke hatte ich erwartet. Das war sozusagen normal, gang und gäbe.
Er packte seinen Knochen aus dem Schlafsack. Aber die markstückgroßen Flecken waren sowas von schwarz und fingen an,
sich an einigen Stellen zusammen zu tun. Ich rief den Krankenwagen. Sie nahmen ihn mit ins Krankenhaus. Ich stand auf
dem Flur und fragte nach ihm. Er sei draußen. Da sah ich ihn im Trainingsanzug mit seinem Hut und den abgelaufenen Stiefeln.
„Du kriegst nichts zu essen, wenn du nicht reingehst. Brauchst du was, soll ich dir was mitbringen?“ Er winkte ab und nickte
ein. Ich setzte mich zu ihm auf die Bank neben dem Eingang. Ich nahm ihm seine Kippe aus den Fingern, bevor sie einbrannte
und er aussah wie von der Straße. Wie er den Kopf hängen ließ, seine Haare wie ein Vorhang. Da war was neben seinem Bein.
Da war im Schatten von seinem Bein eine Flasche. „Die scheint dir nachzulaufen“, sagte ich. „Sogar noch bis hierher.“ Mir
liefen die auch nach: Einmal war ich im Kino, als hinter mir eine auf den Boden fiel, dieses Geräusch, und ich aufsprang und
sie mich in den Sitz zurückzog.
Ich warf seine Kippe weg. Wie sie verglimmte. So ein blöder blauer Rauch kräuselte auf. Hatte ein Zimmer für ihn an der Hand.
Hätte er zu essen bekommen. Hätte er bleiben können.
Schön, so einen Platz in der Sonne zu haben, sagte ich mir frustriert. Ich lehnte mich gespielt zurück und saß da. Sich
zurücklehnen und sich freuen, das einem die Sonne auf den Bauch scheint. Ich hätte es mir leicht machen und seine Vorladungen
und Ablehnungen zurückgehen lassen können, aber ich wußte, wo er zu finden war, und darum brachte ich ihm seine Post.
„Solch ein Ding haben die mir reingesteckt“, hatte Ulle eben noch gelallt und die Länge der Punktionsnadel angedeutet, den
Arm nach hinten gedreht und auf seinen Rücken gezeigt. Er hatte sich zum Draufzeigen richtig krumm gemacht, und ich hatte
gedacht, er übergibt sich jetzt und fällt mir vor die Füße. Ein Buckel, ein Verband, wölbte sich unter dem Blau. Ich war
überrascht, wie er sich verrenken konnte. „Die haben aus mir rausgepumpt, ohne Ende“, hatte er gesagt. „Das tat weh, du
glaubst es nicht.“
Wieder einer weniger. Auch eine Methode, wie man von der Straße kommt. Zu den Akten, Deckel zu, Affe tot, Operation geglückt,
Patient tot, tilt, game over, jenseits von gut und böse und was man noch dazu sagen kann. Ich schaue raus auf die Straße.
Abends Kaffee oder Tee. Auf keinen Fall so wie immer. Man wird es sich verkneifen. Zumindest für diesen Abend. Soviel
Anstand wird sein. Man hat halt Ehre. Und Angst. Keiner wird Lust haben, aus dem Laden eine Achterbahn zu machen. Wenn
einer neu käme und nicht begriffe, würden ihm das alle klar machen, entweder er kapiere oder gehe. An diesem Abend würde
angeschrieben, der Zettel weggeworfen werden. So ist das üblich. So gehört sich das auch. Es ist eh nur an einem solchen
Abend so: Ab nächsten Morgen würde das mit Ulle Schnee von gestern sein. Dann will wieder der Zünder gedreht, die Bombe
scharf gemacht, die Granate aufgerissen und in den Kopf geknallt werden. Ich schiebe den Teller beiseite.
Veröffentlicht in der Literaturzeitschrift Literatur am Niederrhein Dezember 2000 Nummer 47 17. Jahrgang.
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