Kalles Puppenstube

Kalle war klein und untersetzt. Sein Blick hatte etwas Mörderisches; und wenn er auf jemanden böse war oder so tat, sah er aus, als würde er sagen: „Ich bring dich um.“ Sein Haar war grau, mit akkuratem Seitenscheitel. Er ließ sich einen Schnauzbart stehen, der weit über die Mundwinkel nach unten wuchs, mit zwei grauen Strähnen an der Unterlippe, wie Kiemen.
Kalle versuchte immer in das „Affenhaus“ ein Messer reinzuschmuggeln. Wenn Kalle abends reinkam, genauer gesagt reinhinkte, denn er hatte ein Holzbein, und sich eintrug, musste ihn der Nachtwächter immer erinnern: „Kalle, wo bleibt dein Kitzelbesteck?“ Der Nachtwächter wusste, dass Kalle manchmal träumte, er läge in einer Kaserne der Fremdenlegion, bei der Kalle tatsächlich gewesen war, und im Gefängnis; und dann hielt er die anderen für böse, und dann konnte es passieren, dass Kalle zustach, und erst danach kam ihm zu Bewusstsein, dass er im „Affenhaus“ lag. „Kalle, wo bleibt dein Kitzelbesteck?“ Da murrte Kalle und kriegte seinen mörderischen Blick und sagte: „Pass mal auf! Hör mal zu! So ein Ding ist gefährlich! Ich hab' gelernt, damit umzugehen, glaub' mir das! Dir geb' ich so was schon gar nicht!“, und mit einem Augenzwinkern zu den anderen hinter ihm auf dem Flur, „und außerdem will ich mich gleich damit rasieren! Ja, ja, ja!“, und sein Mund mit den Bartsträhnen schnappte wie ein Fischmaul, das einen großen Brocken verschlingt. „Hier hast du einen Einwegrasierer“, sagte der Nachtwächter. „Pah, pass mal auf! Hör mal zu! Wer bist du denn, dass du solche Töne spuckst? Du kennst Kalle wohl nicht, was?“ „Kalle, sei lieb!“ „Aha!“ machte Kalle und nahm das Stilett aus der Lederjacke und ließ es über den Schreibtisch schlittern. Der Nachtwächter zog die Schublade auf und es fiel hinein. So ging das jeden Abend. Kalle brachte auch Zwillen und abgebrochene Gartenharken, mit denen er wie mit großen Krallen herumfuchtelte.
Einmal hinkte er auf dem Weg zum Waschraum am Büro vorbei, mit freiem Oberkörper und Handtuch über der Schulter, und im Hosenbund steckte ein Revolver. Die Jungs starrten, jeder Mund offen. Der Nachtwächter huschte auf leisen Sohlen hinterher und zog ihm das Ding. Kalle fuhr herum, und bevor er „Pass mal auf! Hör mal zu!“ sagen konnte, hielt ihm der Nachtwächter den Revolver entgegen: „Kalle sei lieb und geh schön in den Waschraum!“ „He, ist geladen!“, sagte Kalle. „Ja eben“, sagte der Nachtwächter, „ab in den Waschraum!“ „Pah!“, machte Kalle und ging. Der Nachtwächter schloss das Ding in die Schublade, und eine Streife, die nachts vorbeikam, meinte, das ist ein Schreckschußrevolver; und am Morgen hatte Kalle sein Ding wieder.
Irgendwann zog Kalle in einen Hinterhof. Ab und an kam er ins „Affenhaus“ zu Besuch. Aus diesem Anlass kam er ganz in Schwarz mit breitkrempigem Hut, Lederjacke, hautenger Lederhose und Stiefeletten. Er griff in seine Jacke: „Wollt ihr Brahms hören?“, und er holte eine Mundharmonika hervor und spielte eine schaurige Melodie. „Beethoven kann ich auch, der geht so“, und er blies die Tonleiter rauf und runter. „Wollt ihr noch Bach hören?“, aber die Jungs konnten sich Bach vorstellen und gingen auf die Zimmer. „He, willste mich nicht mal in meiner Puppenstube besuchen kommen?“ „Warum nicht“, antwortete der Nachtwächter. „Ja, ja, ja!“, freute Kalle sich. „Ich hab' wirklich eine Puppenstube, auch mit Puppe, ja, ja, ja!“ „Zum Aufblasen!“, sagte einer der Jungs, der sich im Büro einen Kaffee holte. „Eh, woher weißt du das denn, warste wohl drin und hastse gebumst!“ „Mein Schloss ist kaputt“, sagte er zum Nachtwächter, „muss ich mich drum kümmern, sonst kommt da jeder rein in meine Puppenstube. Aber pass mal auf! Hör mal zu!“, beugte Kalle sich vor. „Neulich habe ich meine Puppe hübsch angezogen, mit Strapse und so, und sie hat gelacht, und ich sagte, lach doch nicht so blöd und hab' ihr eine gescheuert, aber die lachte immer noch. Da hab' ich ihr noch mal eine gescheuert, und kannste dir vorstellen, die hörte nicht auf, die ist immer nett zu Kalle!“ Kalle lehnte sich zurück und nahm einen Schluck aus dem Plastikbecher.
Tatsächlich kam der Nachtwächter zu Besuch. Beim ersten Klopfen ging die Tür auf. „Komm rein Strolchi!“, rief Kalle. Er hatte gespült und das Handtuch über der Schulter. „Muss doch alles sauber sein wenn Besuch kommt ...“ „ Ja, ja, ja!“, fiel ihm der Nachtwächter ins Wort und klopfte ihm auf die Schulter.
Der Raum war weiß gestrichen, eine umgebaute Garage, das Bett ordentlich gemacht. An den Wänden hingen Kalles Messer und Harken, und der Revolver diente auch als Wandschmuck und ein Strick mit einer sauber geknüpften Schlinge.
„Schau her!“, sagte Kalle und machte den Schrank auf. Die Wäsche lag picobello einsortiert. „So ordentlich krieg' ich das nicht hin“, sagte der Nachtwächter. „Kannste mal sehen“, sagte Kalle, „der Spind muß tipptopp sein.“
„Ja, wo haste denn deine Puppe?“ „Ha!“, sagte Kalle und griff unter das Bett und zog die zerknautschte Puppe mit dem erstarrten Lächeln hervor. „Mit der kannste nicht reden“, sagte Kalle und stieß sie sogleich unters Bett.
Seit kurzem hat Kalle zwei Freunde bei sich aufgenommen, mit denen er von früh bis spät quatscht. Sie fangen an zu zwitschern, wenn er den Mund auf- oder das Radio anmacht: Max und Moritz, seine beiden Wellensittiche.


Veröffentlicht in der Literaturzeitschrift Literatur am Niederrhein Mai 2000 Nummer 45 16. Jahrgang und im Straßenmagazin fiftyfifty 14. Jahrgang August 2008.



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