- Impressum
- Datenschutz
- Presse
-
Prosa
-
Lyrik
Alter Mann aus Prud
Er schüttelte Tropfen von seinem Schirm, machte ihn zu, blickte umher und stellte ihn in den Schirmständer, den ich nicht benutzte
und längst wegwerfen wollte. Er nahm die Schiebermütze vom Kopf, begrüßte mich in seiner Sprache und ich versuchte zu antworten,
sprach nach, was ich jeden Tag hörte. Er strich über seine weißen Stoppeln und lächelte, begann in seinem Jackett zu suchen und
bat mit einer Geste um Geduld. Regentropfen perlten von seiner Jacke. Aus der Innentasche zog er einen aufgerissenen Briefumschlag,
nahm das Schreiben heraus und gab es mir. Ich fragte ihn, probierte aus, was ich aufgeschnappt hatte. Er antwortete langsam und
betont: „Ah! Mein Name, wie ich heiße.“
„Sie sprechen ja Deutsch.“
„Oh ja, habe ich gelernt im Krieg. Aber ich habe viel vergessen. Wenn du langsam sprichst verstehe ich achtundachtzig Prozent.
Wenn du schnell sprichst verstehe ich zwei Prozent.“ Ich nickte. „Ich war, warte mal.“ Er zählte an seinen Fingern und murmelte:
„Ich war siebzehn.“ Er zeigte in die Höhe: „Aber groß. Verstehst du, wie sagt man?“ Es fiel ihm schwer, seine Erinnerung in eine
fremde und lange nicht mehr gebrauchte Sprache zu fassen. „Verstehst du, ich war ein junger Mann!“
Er gab ein Zeichen. Ich sollte aufpassen.
„Kompanie stillgestanden!“ Er nahm Haltung an. „Präsentiert das Gewehr!“
Er präsentierte. „Die Augen!“ Er warf den Kopf herum. „Im Gleichschritt!“ Er trat auf der Stelle. „Achtung!“ Er sang mit
eingezogenem Bauch und geschwellter Brust ein Lied. Während des Singens dirigierte er Strophe für Strophe, besann und verneigte
sich, als ob er Applaus erhalten hätte und lächelte. „Kennst du das, Kamerad?“ Er wischte mit einem Papiertuch über die Stirn
und putzte seine Nase.
„Nein, das kenn ich so nicht. Ich weiß aber, also, ich meine, na ja, mir ist schon klar.“
Er hielt es in der Hand und sah sich um. Ich schob ihm den Papierkorb hin. „Das war mein Leben. Schöne Zeit. Gute Kameradschaft.
Gut. Gut“, sagte er und klopfte auf den Tisch. Ich gab ihm das Schreiben zurück. Sein Rentenantrag wurde abgelehnt, weil
er „nicht Teil des Heeres, sondern nur zu den sogenannten angeschlossenen Hilfstruppen“ gehört hatte. Er hielt einen Kugelschreiber,
den man für wenig Geld oder als Werbegeschenk bekommt, schrieb in die Luft und legte sich den Umschlag zurecht. Zwischen dem
Poststempel und dem Papierfenster war kaum Platz. Er schaute auf die Rückseite, sie stand zur Verfügung, er legte seinen Arm
auf, zeichnete Zacken und Wellen, Zacken und Wellen und schob mir den Umschlag hin: „Das ist die Save.“ Ich nickte. Ich war
an der Save entlanggefahren. Er richtete seinen Blick angestrengt auf die Zeichnung. Ich machte Licht an. Er schaute hoch
und lächelte. „Hier ist noch ein Fluss“, sagte er und kritzelte weitere, aber dünner. „Verstehst du?“ Wo sich seine „Flüsse“
trafen malte er einen dicken blauen Punkt: „Da ist Bosanski Samac, aber hier komme ich her“, drückte den Stift aufs Papier,
„Hier ist meine Heimat, verstehst du?“, sagte etwas, was ich nicht verstand, merkte das und schrieb auf den Umschlag.
„Ach, Sie meinen Prud?“
„Ja, ja!“, rief er erfreut. „Warst du da?“
„Ja, auf dem Weg nach Ungarn in den Urlaub.“ Ich zeigte auf meine ausgestreckte Hand und nach draußen. „Eine Landschaft
wie hier, völlig eben.“ Er nickte.
Der Dorfplatz war leer. Kein Schild verbot zu parken. Nach der Bank mussten wir nicht suchen. Die Kassenhalle war erleuchtet,
obwohl es draußen hell und drinnen überraschend kühl war. Wir hörten die Klimaanlage. Die Frauen und Männer hinter den
Schaltern trugen Kostüm, Anzug und Krawatte, waren perfekt frisiert und rasiert und wir die einzigen Kunden, in Shorts,
T-Shirts und Sandalen, je ein Kind auf dem Arm, lösten Reiseschecks ein und strichen den Kindern durchs Haar. Die Rechenmaschine
ratterte. Banknoten wurden gezählt und ausgehändigt. Scheine mit unbekannten Darstellungen. Viele Nullen hinter den Ziffern.
Wir versuchten zu zählen und den Kurs umzurechnen, kamen durcheinander und gaben auf. Der Umfang des Bündels wollte Maß genug
sein, aber der Kassierer ließ die Rechenmaschine erneut rattern und legte Scheine dazu. Wir taten, als ob wir nachzählten,
dankten, gingen und schauten draußen umher. Da war ein Restaurant. Wir nahmen Platz im Schatten unter großen Bäumen mit
dichtem Blattwerk. Der Kellner sprach Düsseldorfer Dialekt. Seine Garderobe wirkte wie eine hier wohl übliche Tracht.
Für wenig Geld tranken und aßen wir viel und gut. Wir sollten uns beeilen. Die Tankstelle würde beliefert. Alle Fahrzeuge
aus dem Ort und der Umgebung ständen schon an. Wir warteten zwischen Leuten, die kein Wort sprechen wollten oder konnten.
Das fremde Konzernschild glänzte in der Sonne. Alte Farbe blätterte. Sie sperrten die Kiesauffahrt mit einer durchhängenden
Kette und schickten die Wartenden laut und mit vielen Gesten weg. Einige ließen ihre Autos stehen. Andere schleppten sie mit
Traktoren, Eseln oder Ochsen ab. Mit vollem Tank und vollem Magen fuhren wir an niedrigen Häusern, Kutschen und Leiterwagen
vorbei, „Wie hieß das hier?“, fanden den Ort auf der Karte und machten mit einem Kugelschreiber, auf dem ADAC stand, einen
blauen Punkt. Wir hatten denselben Ort markiert. Ich tippte auf den Umschlag: „Da waren wir auf der Durchreise. Verstehen
Sie? Urlaub.“
Er nickte und freute sich: „Kamerad, was bist du für einer? Bist du Katholik oder Orthodox oder Musliman?“ Ich zeigte ihm
das Kreuz, das ich am Hals trage. Da zog er ein kleines Fotoalbum aus der Tasche, klappte es auf, nahm ein Papst – Portrait
heraus, legte das auf den Tisch und klopfte darauf. „Gut“, rief er. Wie schnell er das Gegrüßet–seist–du–Maria in seiner
Sprache aufsagte, dann auf Italienisch. Er forderte mich auf, mitzubeten. Schade, er sprach weder Englisch noch Französisch.
Wenn er von Wallfahrten aus Belgien zurückkam, sprach er Grenzbeamte mit „Kamerad“ an und wurde durchgewinkt. Schaffner
halfen ihm beim Umsteigen. Laut seinen Papieren durfte er nach der Ausreise nicht mehr zurück nach Deutschland. Er zeigte
mir ein anderes Foto. Ich betrachte Männer vor einem weißen Haus. Alle stützten sich auf ihre Schaufeln. Seine Brüder. Er
zeigte zitternd auf jeden, sagte die Namen und dass er auch zu sehen sei. Weil ich ihn auf dem Bild nicht fand, nahm er mir
das Foto aus der Hand und zeigte auf einen. Da erkannte ich ihn. Wie sich sein Haar wellte. Er hatte die Schiebermütze für
den Fotographen abgenommen und hielt sie in der Hand. Ich sah Stufen zur Haustür, ein Vordach, eine weiße Glaskugellampe,
ein Rosenspalier und einen Brunnen. „Was habe ich in meinem Leben geschippt. So viel geschippt. Waggons voll. Einen Güterzug.“
Er machte es vor. „Das kann ich immer noch. Das habe ich nicht verlernt.“
Meine Frau, unsere Kinder und ich waren damals auf einer festen Brücke über die Save gefahren. Eine Parallelträgerkonstruktion.
Später war da eine Pontonbrücke. Auf ihr fuhren gecharterte Busse mit der Aufschrift UNHCR. Er schrieb sein Geburtsdatum. Er
war einundsiebzig. Das Licht reflektierte auf den Fotos. Sein Haus war mit Einschüssen übersät. Wunden im Mauerwerk. Kaputte
Fenster. Eingefallenes Dach. Verbrannte Balken. Verrußter Putz. Zerbrochenes Rosenspalier. Zersplitterte Lampe.
„Die Hauszahl, verstehst du, die Zahl an der Wand, wie sagt man?“ Er strich über seine weißen Stoppeln und lächelte.
„Die Hausnummer.“
„Ja, die Hausnummer, die haben sie abgerissen und in den Dreck geworfen. Aber weißt du, sie war noch da, verstehst du, sie
war trotzdem zu sehen.“
„Ich weiß, was Sie meinen. Wie bei einem Bild, das man nach langer Zeit von der Wand nimmt.“
„Ja“, rief er und zeigte auf mich. „Mit schwarzer Farbe haben sie eine andere Nummer auf die Wand gemacht.“ Er bewegte
seine Hand auf und ab. „Und darunter ein Kreuz mit je einem Punkt in jedem Winkel. Das böse Zeichen. Du musst aufpassen.
Ich habe es hier gesehen. Als Schmiererei, klein, an der Ampel, fast genau da, wo man drückt, wenn man über die Straße will.“
Er hob die Hand: „Weißt du, an dem Tag, an dem ich in meinem Haus war, war viel Regen, verstehst du? Wie sagt man?“
„Schlechtes Wetter.“
„Ja, schlechtes Wetter“, sagte er langsam und betont. „Mein Sohn, einer von meinen Söhnen hat die Fotos gemacht. Es gab
viel Regen. Ich machte meinen Schirm zu und suchte meinen Schirmhalter.“ Er schnippte mit den Fingern und fuhr mit der Hand
in die Höhe. „Mein Schirmhalter war weg. Ich musste den Schirm in die Ecke stellen und die Wand nass machen. Auch den
Klebeteppich. Ein großer Fleck. Wie Pipi. Als hätte ich keine Kultur. Wie Propaganda.“ Er lief durch den Raum und zeigte
in die Ecken, tat, als würde er dort den Bodenbelag hochziehen und sah mich dabei an. Er lief weiter umher, blieb an
verschiedenen Stellen stehen, hob sein Jackett über den Hosenbund und ging in die Hocke: Weil der Kleber hielt, konnten
sie ihm den Teppichboden nicht wegnehmen. Sie hätten den nur in Fetzen gerissen. Darum ließen sie auf ihm ihren Harn und
ihre Exkremente zurück. Natürlich hatte er einen Schirmständer und eine Toilette. Ich verstand ihn und gab ihm ein Zeichen.
Er nickte und zeigte auf mich. „Ich hatte auch Tür, verstehst du. Tür. Ich hatte Tür. Wie sagt man?“ Er blickte auf den
Boden, als könne er da finden wonach er suchte.
„Eine Tür. Türen. Sie hatten Türen. Ihr Haus hatte Türen.“
„Nein, Hund, Hund“, schnippte er mit den Fingern. „Viel“, fuchtelte er.
„Ach, Sie meinen Hunde. Sie hatten Hunde.“
„Ja, auch andere, auch eine Katze.“
„Ach, Sie meinen Tiere.“
„Ja. Ich hatte Tiere.“ Er stützte sich mit der Linken auf meinen Tisch und holte mit der Rechten über meinen Kopf hinweg
aus: „Viele Tiere, weißt du, viele Tiere." Er zeigte mir Fotos von seinem Taubenschlag, seinem Schäferhund und dem
Kaninchenstall. „Weißt du Kamerad, ich hatte auch Vögel. Ich habe vergessen. Für die Eier.“
„Hühner. Sie meinen Hühner.“
„Ja“, rief er und zeigte auf mich, strich über seine weißen Stoppeln und lächelte.
„‚Ich habe Tiere gehütet‘, erklärte er.
‚So‘, sagte ich und verstand nicht ganz.
‚Wissen Sie, ich blieb, um die Tiere zu hüten.‘
‚Wo kommen Sie her?‘ fragte ich ihn.
‚Aus San Carlos‘, sagte er und lächelte. Es war sein Heimatort, und darum machte es ihm Freude, ihn zu erwähnen, und er lächelte.
‚Ich war der Letzte, der die Stadt San Carlos verlassen hat.‘
Er sah weder wie ein Schäfer noch wie ein Rinderhirt aus, und ich musterte seine staubigen schwarzen Sachen und sein graues,
staubiges Gesicht und seine stahlgeränderte Brille und sagte: ‚Was für Tiere waren es denn?‘
‚Allerhand Tiere. Es waren zwei Ziegen und eine Katze und dann noch vier Paar Tauben.‘
‚Und Sie mussten sie dalassen?‘
‚Ja, wegen der Artillerie. Der Hauptmann befahl mir fortzugehen wegen der Artillerie.‘
Über den Fluss führte eine Pontonbrücke, Karren, Lastautos, Männer, Frauen und Kinder überquerten sie. Die von Maultieren
gezogenen Karren schwankten die steile Uferböschung hinter der Brücke hinauf, Soldaten halfen und stemmten sich in die Speichen
der Räder. Die Lastautos arbeiteten schwer, um aus all dem herauszukommen, und die Bauern stapften in dem knöcheltiefen Staub einher.
‚Und Sie haben keine Familie?‘, fragte ich und beobachtete das jenseitige Ende der Brücke, wo ein paar letzte Karren die
Uferböschung herunterjagten.
‚Nein‘, sagte er, ‚nur die Tiere, die ich angegeben habe.‘
‚Wo stehen Sie politisch?‘, fragte ich.
‚Ich bin nicht politisch‘, sagte er. ‚Ich bin 76 Jahre alt. Ich bin jetzt zwölf Kilometer gegangen, und ich glaube, dass ich
jetzt nicht weiter gehen kann. Man braucht sich wegen der Katze keine Gedanken zu machen. Aber die andern.‘
‚Haben Sie den Taubenkäfig unverschlossen gelassen?‘
‚Ja.‘
‚Dann werden sie wegfliegen.‘
Es war Ostersonntag, und die Faschisten rückten gegen den Ebro vor. Es war ein grauer, bedeckter Tag mit tief hängenden Wolken,
darum waren ihre Flugzeuge nicht am Himmel. Das und die Tatsache, dass Katzen für sich selbst sorgen können, war alles an Glück,
was der alte Mann je haben würde.“
Er ließ seine Zeichnung liegen. Ich legte sie zwischen diese Seiten.
Es war ein verregneter Sommernachmittag in Deutschland und in Bosnien war Krieg und der alte Mann aus Prud erzählte dieselbe
Geschichte wie der aus San Carlos in Hemingways Erzählung „Alter Mann an der Brücke“.
nach oben